(Experten Interview mit Helmut Martin und Steffen Volk, Geschäftsführer der BARMER Würzburg – Teil 3)
Das Thema Resilienz wird uns und Firmen noch eine ganze Weile beschäftigen, oder?
Helmut Martin: Ja, da bin ich mir sicher. Allein der Blick auf die zunehmende Anzahl an psychischen Erkrankungen zeigt hier den aktuellen und auch zukünftigen Bedarf. Es ist aber auch ein sehr persönliches Thema, zumal ich mich seit 26 Jahren unter anderem mit Persönlichkeitsentwicklung und Achtsamkeit beschäftige. Ich selber habe ja schon so manche Krise im Leben hinter mir. Danach habe ich mich gefragt, wie ich das wieder mal gemeistert habe und eigene Strategien für den Umgang mit Krisen entwickelt – die interessanterweise sehr mit den heutigen Resilienzkonzepten übereinstimmten.
Beim Blick in die Gesellschaft habe ich den Eindruck, dass die Resilienz oder psychische Belastungsfähigkeit der Menschen zunehmend nachlässt. Es ist für mich daher ein Herzensanliegen, hier zu unterstützen.
Haben Sie eine Erklärung für die mangelnde Belastungsfähigkeit?
Helmut Martin: In den letzten Jahren hat sich eine Dauerbelastung ergeben, die viele Menschen extrem verunsichert hat. Die Corona-Pandemie hat vielen Angst gemacht. Und dass mit der Botschaft, wenig Kontakt zu anderen Personen haben zu sollen. Das bedeutet für unser Gehirn einen enormen Stress, zumal Verbundenheit einen hohen Einfluss auf die Resilienz und gleichzeitig auf unser Immunsystem hat. Hinzu kommen der Ukraine-Krieg und die Energie-Krise. Diese kontinuierlichen Belastungen und Verunsicherungen führen bei vielen Menschen zu Sorgen oder auch Existenzängsten. Und genau das ist eine wesentliche Ursache für Kraftverlust und zunehmend leere Akkus in der Gesellschaft.
Der zweite Grund für die nachlassende Belastungsfähigkeit: Wir Menschen haben es oft verlernt, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Die meisten Menschen sind sehr eingebunden ins Äußere. Wenn sie mal Zeit für sich haben, nutzen sie diese für das Social Media, Chat-Gruppen, oder Ähnliches. Sie nutzen sie aber nicht für das Wichtigste: sich Zeit zu nehmen für sich selbst, das heißt sich zu spüren, die eigenen Gedanken und Emotionen wahrzunehmen, die eigenen Bedürfnisse zu erkunden und zu spüren, was es aber braucht, um den eigenen Akku wieder aufzuladen.
Untersuchungen zu Burn-out zeigen klar, dass Burn-out besonders dann entsteht, wenn Menschen kein Gefühl mehr für sich und ihren Körper haben. Und bei ständiger Belastung kommt irgendwann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Falls wir es schaffen, dass wir wieder mehr Bewusstsein für unsere körperlichen und psychischen Prozesse, für unsere Bedürfnisse und Gefühle entwickeln, dann würde das viele Türen öffnen – für eine stärkere, mentale Gesundheit in der gesamten Gesellschaft.
Wie könnten drei Fragen lauten, anhand derer man die eigene Resilienz schnell einschätzen kann?
Helmut Martin: Die eine Frage lautet: Wie viel Vertrauen habe ich in meine eigenen Fähigkeiten? Wie vertrauensvoll schaue ich in die Zukunft? Die dritte Frage: Wie voll empfinde ich meinen persönlichen Akku?
Was können Führungskräfte selber tun, um sich mehr Resilienz anzueignen – unabhängig vom Coaching?
Helmut Martin: Ich nenne es „Rettungsring-Metapher“. Dahinter steht die Frage: Was gibt mir alles Kraft? Was bringt mich nach oben, wenn ich ins Wasser falle? Das können unterschiedliche Aspekte sein. Ein Spaziergang in der Natur, ressourcenreiche Zeit mit den Kindern oder Menschen, die einem guttun. Letztendlich eignet sich alles, was dazu dient, den persönlichen Akku aufzuladen. Wichtig ist auch hier die Kontinuität, das heißt Regelmäßigkeit.
Bei mir ist es das Rudern. Wenn ich angespannt bin, gehe ich aufs Wasser. Die Mischung aus Bewegung, Natur und Balance gibt mir sehr viel Kraft und hat mir in den vergangenen Jahren sehr dabei geholfen, anspruchsvolle Zeiten zu durchstehen.
Ein weiterer Tipp ist, auch ein Dankbarkeitstagebuch zu führen. Schreiben Sie sich zehn Dinge auf, wofür Sie wirklich dankbar sind im Leben. Einzige Voraussetzung: Die Dankbarkeit muss fühlbar sein. Wenn Sie sich diese Liste jeden Abend vor dem Schlafengehen oder morgens nach dem Aufstehen bewusst machen und die Dankbarkeit fühlen, tun Sie schon viel für den eigenen Akku. Und das Gute ist, dass Sie die Liste kontinuierlich erweitern können.
Das heißt, jeder steht in der Selbstverantwortung und sollte nach Kraftquellen suchen – um sich solcher immer wieder bewusst zu werden?
Helmut Martin: In der Tat! Selbstverantwortung ist wichtig, ebenso das Bewusstsein, dass wir uns regelmäßig reflektieren und an uns arbeiten müssen. Nur so können wir uns weiterentwickeln und innere Stärke und Souveränität aufbauen.
Inwieweit können Mitarbeiter zur Resilienz der jeweiligen Führungskraft beitragen?
Helmut Martin: Wenn nur ein einziger Mitarbeitender, beispielsweise in einem Team aus fünf Mitarbeitern, an seiner eigenen Resilienz arbeitet, dann stärkt diese das ganze Team. Wenn andere dem Beispiel folgen, steigert das die Performance des ganzen Teams. Das entlastet auch die Führungskraft.
Steffen Volk: In diesem Zusammenhang ist es wichtig, eine Fehlerkultur zu schaffen, sowie eine offene Kommunikation im Unternehmen. Das bedeutet: Sowohl für Führungskraft als auch Mitarbeitende gilt es, an den Kollegen und Kolleginnen bzw. Chef heranzutreten und im Rahmen des Möglichen preiszugeben, über was man sprechen möchte. Das kann sehr das Vertrauen fördern, vor allem dann, wenn es gerade diverse Belastungssituationen gibt – privater, gesundheitlicher oder beruflicher Natur.
Was passiert aber in Unternehmen, in denen genau diese Werte – offene Kommunikation, Fehlertoleranz – gar nicht gewünscht sind?
Steffen Volk: Ich will das nicht pauschalisieren. Aber ich glaube, wenn sich Führungskräfte und Entscheidungsträger solcher Unternehmen ehrlich reflektieren würden, dann könnte es sein, dass man zu der Erkenntnis kommt, dass eine höhere Fluktuation womöglich auch mit der sinkenden Bereitschaft der Mitarbeitenden zu tun hat, in einem solchen Unternehmen arbeiten zu wollen.
Die Frage, die sich dann stellt: Gewinne ich durch eine solche nicht vorhandene Fehlerkultur wirklich etwas? Oder mache ich vielleicht mehr kaputt? Eine Fluktuation muss ich ja wieder wettmachen. Und das „Onboarding“ neuer Mitarbeiter kostet viel Zeit, Energie und Geld. Wenn ich immer wieder neue Mitarbeiter einlernen muss, kostet das ebenso viel Zeit. Darunter leidet die Produktivität.
Ist ein Betrieb langfristig gefährdet, wenn die Resilienz bei Führungskräften langfristig nachlässt?
Helmut Martin: Zu hundert Prozent ja! Wenn Führungskräfte wegbrechen, brechen bei den meisten Unternehmen die tragenden Säulen weg. Neben einem Mangel an Orientierung und Leitung bricht auch der Informationsfluss weg – mit fatalen Folgen!
Steffen Volk: Ich schließe mich dem an. Wenn die Führungsebene wegbricht, ebenso Leistungsträger auf anderen Ebenen, dann hat das massive Auswirkungen auf das Unternehmen. Denken Sie allein an die Tatsache, dass manche Mitarbeiter bis zu 49 Tage wegen Krankheit im Jahr fehlen.
Zu guter Letzt: Nennen Sie die aus Ihrer Sicht 3 wesentlichen Bausteine für eine nachhaltige Resilienz bei Führungskräften!
Steffen Volk: Es gibt den schönen Satz: Veränderung beginnt bei sich selbst. Man sollte stets durch Reflexion Veränderungen herbeiführen. Dazu gehört die Selbstreflexion und damit folgende Fragen: Was sind meine Kraftquellen, was sind meine Energieräuber? Zweitens: Eigene Strukturen schaffen! Ich selber beschäftige mich alle 14 Tage mit meiner persönlichen Weiterentwicklung, was wiederum Auswirkungen auf mein Team hat – und ebenso auf die Außendarstellung des Unternehmens. Drittens: Wie schaffe ich mir einen Ausgleich? Ich denke an mein soziales Netzwerk, also an mir nahestehende Personen, an Sportaktivitäten. Ein regelmäßiges Herz-Kreislauf-Training sorgt für den Abbau von Stresshormonen, zum Beispiel Cortisol, und für die Senkung von Blutzucker und Blutfett. Ob Joggen, Tanzen, Krafttraining oder Mannschaftssportarten – welche Art von Sport für den Stressabbau gewählt wird, richtet sich ganz nach den persönlichen Vorlieben.
Helmut Martin: Die Auseinandersetzung mit sich selbst, das heißt die Reflektion und Erkundung der eigenen Verhaltensweisen, Bedürfnisse und Gewohnheiten. Die Bereitschaft und der Mut, an sich zu arbeiten und neue Wege zu gehen. Und die Entscheidung, sich dabei von einem kompetenten Partner begleiten zu lassen. Gerade der letzte Punkt ist zum Beispiel im Sport essenziell. Ein erfahrener Coach schaut uns bei unseren Übungen zu, gibt uns Feedback zu seinen Beobachtungen und konkrete Impulse, wie wir unsere Leistungsfähigkeit verbessern können. Dieses Feedback von außen ist oft ein wesentlicher Beitrag zur Leistungssteigerung und für Profis unverzichtbar.
Vielen Dank für das Interview!